Abschied von Oma
von
Sabine Jainski
52 min., arte / NDR 2013
Meine Oma wird 99 - sie
blickt auf fast ein Jahrhundert gelebte Geschichte zurück.
Die unternehmungslustige, fröhliche, zupackende Frau war
stets der geliebte Kern unserer Familie. Mit ihren
urberliner Sprüchen meisterte sie jedes Problem, noch mit
80 fuhr sie gern auf dem Motorrad-Sozius. Doch seit einem
Sturz vor vier Jahren liegt sie Tag und Nacht im Bett, ist
fast blind und wird körperlich immer schwächer. Trotzdem
ist sie geistig präsent, sie macht weiterhin gern Witze,
und voll Staunen betrachte ich ihren zähen Lebenswillen.
Wartet sie auf den Tod – oder genießt sie trotz all der
Einschränkungen noch ihr Leben? Hat sie Angst vor dem
Sterben?
Ich beschließe, meine Oma selbst zu fragen, wie sie sich
fühlt. Wenn ich zu ihr ins Pflegeheim fahre, ist das wie
ein Bremsvorgang: Aus meinem hektischen Alltag in ihr
ruhiges, gleichmäßiges Leben. Bei ihr fühle ich mich
geborgen und in Frieden. Gemeinsam mit Omi erinnere ich
mich an meine Kindheit, an all die Geschichten, die sie
mir erzählte, und an unsere kunstvollen Bastelarbeiten.
Mit meinen Geschwistern versuche ich mir vorzustellen, wie
es uns in einer solchen Lage ergehen würde: Könnten wir
auch so diszipliniert und freundlich sein wie unsere Oma?
Und: Wer wird sich um uns kümmern, wenn wir einmal so alt
sind? Schließlich werden die Menschen in Europa immer
älter – und immer mehr müssen am Ende des Lebens gepflegt
werden.
Den 99. Geburtstag feiern wir mit der besten Freundin
meiner Oma. Die beiden alten Damen verbindet eine
Jahrhundertfreundschaft, die über Krieg, Flucht und Leiden
hindurch stets Bestand hatte. Sie sind meine Vorbilder im
Leben und im Sterben: Denn wie sie ihr Leben stets
meisterten, haben sie heute auch keine Angst mehr vor dem
Tod, sagen sie – im Gegenteil, er wäre ihnen sogar
willkommen.
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